Funktion und Zweck des Schlafes
Der folgende Text stammt aus einer älteren Facharbeit (Müller, T.: Wieviel Schlaf braucht der Mensch. Lit-Verlag 1996) und ist weder für Laien geschrieben noch besonders aktuell - sorry
Während mittlerweile gut erforscht ist, was während des Schlafes im Körper passiert, besteht über seine Funktion nach wie vor Unklarheit. Bedeutende Schlafforscher wie Horne (1988) als auch Koella (1988) resümieren, daß die einzige sichere Funktion des Schlafes in einem "Entmüdungseffekt" besteht. Die Unterscheidung von NREM- und REM-Schlaf läßt natürlich vermuten, daß beiden klar unterscheidbare Funktionen zuzuordnen sind. Allein, auch hier gilt:
"Zum gegenwärtigen Zeitpunkt kann nicht eine einzige der möglichen Funktionen experimentell klar belegt werden."
(Pollmächer und Lauer, 1992, S. 34).
Hinsichtlich einer generellen Funktion des Schlafes bestehen zwei grundsätzliche Annahmen:
- a) Restitutive Theorien gehen davon aus, daß im Schlaf entweder energieliefernde Substanzen, Gewebeteile o.ä. ersetzt werden, die im Wachzustand verloren gingen, oder aber im Wachzustand angereicherte toxische Substanzen abgebaut werden. Im Sinne dieses Ansatzes wurden seit der Entdeckung des Hypnotoxins (Legendre und Pieron, 1913) inzwischen mehr als ein Dutzend Peptide gefunden, die eine schlaferzeugende oder schlaffördernde Wirkung haben. Entgegen der Entgiftungsthese wird heute aber angenommen, daß diese Stoffe eine Rolle bei der Schlaf-Wach-Regulation spielen und die Funktion des Schlafes nicht in ihrer Beseitigung besteht. Zu den restitutiven Theorien im weiteren Sinne dürfte auch die These zählen, nach der dem Schlaf als wesentlichem Bestandteil biologischer Rhythmen ein synchronisierender Einfluß zugeschrieben wird (Hildebrandt, 1987), wie er z.B. in Bezug auf die Phasenkopplung verschiedener Rhythmen des Atmungs- und Kreislaufsystems (Pöllmann, 1972; Raschke et al., 1977) nachgewiesen und in letzter Zeit auch von Seiten der endokrinologischen Schlafforschung postuliert wird.
- b) Adaptive Theorien (insbesondere Webb, 1974, 1975, 1983) betrachten Schlaf als ein an den jeweiligen Lebensraum angepaßtes, dem Überleben förderliches Verhalten, wobei Schlaf die notwendige Bedingung für die Aufrechterhaltung dieser Verhaltensruhe darstellt. Unstrittig in diesem Sinne ist, daß Schlaf zu einer Energieeinsparung führt, die allerdings nur für kleinere Lebewesen wie z.B. Nagetiere eine zentrale Bedeutung haben dürfte, während sich beim Menschen die Stoffwechselrate im entspannten, wachen Zustand nicht wesentlich von der des Schlafes unterscheidet (Horne, 1988).
In Bezug auf den NREM-Schlaf wird von mehreren Autoren eine Restitution peripherer Körperfunktionen angenommen (z.B. Baekeland und Lasky, 1966; Adamson et al., 1974), wofür u.a. die erhöhte Wachstumshormonausschüttung zu Beginn der Nacht und die Zunahme des Tiefschlafs nach intensiver körperlicher Anstrengung spricht (Baekeland und Lasky, 1966; Bert, 1973; Hobson, 1968). Für den REM-Schlaf wird dagegen eine Erholung zentralnervöser Defizite postuliert (s.u.). Eine solche an das klassische Leib/Seele-Problem angelehnte Funktionsdichotomie kann jedoch kaum als bewiesen gelten. Auch die zahlreichen letalen Schlafentzugsexperimente bei Tieren und Studien mit bis zu zehntägigem Schlafentzug beim Menschen haben in dieser Hinsicht bisher keine oder keine eindeutigen Ergebnisse geliefert. Zumindest beim Menschen scheint längerer Schlafentzug von peripheren Systemen im Allgemeinen recht gut vertragen zu werden, während das Gehirn mit zum Teil markanten funktionellen Störungen reagiert (Koella, 1988, führt u.a. emotionale Instabilität, Aufmerksamkeits- und Gedächtnisstörungen, Desorientierung, Illusionen und Halluzinationen als wichtigste Schlafentzugsfolgen an; vgl. auch: Huber-Weidmann, 1976).
Noch wesentlich umstrittener sind die zahlreichen Theorien und Befunde zum REM-Schlaf. Zu den Wichtigsten zählen:
- a) die verschiedenartigen Thesen, nach denen dem REM-Schlaf eine im weitesten Sinne informationsverarbeitende Funktion zukommt (s.u.).
- b) die Motivationsthese nach Vogel (1979), die auf dem Befund einer erhöhten physiologischen Erregbarkeit des Gehirns und einer Zunahme von Triebverhalten bei Tieren nach selektiver REM-Schlaf-Deprivation beruht. Ähnlich wie Vogel vertrat auch schon Dement (Dement et al., 1967) angelehnt an die Freudsche Traumtheorie die These, daß REM-Schlaf eine Art Sicherheitsventil für Triebe darstellt.
- c) die Homöostase-These von Ephron und Carrington (1966), wonach REM-Schlaf einen hypothetisch angenommenen "korticalen Tonus" periodisch aufrechterhält.
- d) die phylogenetische These von Snyder (1966), der die wichtigste Funktion des REM-Schlafs mit seinen kurzen "Arousals" darin sieht, den Organismus während der langen, gegenüber äußeren Gefahren ungeschützten Dauer des Schlafes, zeitweise periodisch in eine Flucht/Kampf-Bereitschaft zu versetzen.
- e) die ontogenetische These, wonach die durch den REM-Schlaf hervorgerufene Stimulation der Reifung des Zentralnervensystems dient. Diese These beruht auf der negativen Korrelation zwischen dem Reifezustand des Gehirns bei Geburt über verschiedene Arten hinweg einerseits und dem hohen REM-Schlaf-Anteil bei Geburt andererseits (Roffwarg et al., 1966).
Den größten Raum nehmen nach wie vor die teilweise sehr unterschiedlichen Thesen zu einer informationsverarbeitenden Funktion des REM-Schlafes ein (eine kurze Übersicht findet sich in Pollmächer und Lauer, 1992; explizit setzt sich Lischer, 1986, mit diesem Thema auseinander). Dabei dominiert die Gedächtniskonsolidierungsthese, nach der der REM-Schlaf eine notwendige Bedingung für die Übertragung von Gelerntem vom Kurzzeit- in das Langzeitgedächtnis ist. Hierfür sprechen u.a. die gedächtnisstörenden Effekte von REM-Schlafentzug , die Zunahme des REM-Schlafs nach intensiver Lerntätigkeit und biochemische Befunde. Nach Pearlman (1982) betrifft dieser gedächtnisbahnende Effekt vor allem sog. "unprepared learning" im Sinne von Seligman (1970) bzw. emotional bedeutsames Material (Greenberg et al., 1972) bzw. eher divergente als konvergente Aufgaben (Lewin und Glaubman, 1975). Während Koella ebenso wie Lischer (1986) nach Durchsicht der "[...] doch recht zahlreichen positiven- gegenüber nur wenig negativen Versuchsergebnissen [...]" (Koella, 1988, S. 127) der gedächtnisbahnenden Rolle des REM-Schlafes einen hohen Stellenwert einräumt, kommt Horne (1988) nach seiner Übersicht zu der genau gegenläufigen Schlußfolgerung: "REM sleep is not essential to memory consolidation." (Horne, 1988, S. 313), wobei man sich des Eindruckes einer etwas einseitigen Auswahl von Studien durch den Autor angesichts von Aussagen wie "[...] in the experiments on humans there is no sign of any heightening of REM sleep." (a.a.O., S. 272) nicht erwehren kann (eine Zunahme des REM-Schlafes findet sich u.a. bei Dekonink et al., 1975; Greenberg und Dewan, 1969; Lewin und Gombosh, 1973; Paul und Dietrichova, 1975; Zimmermann et al., 1970).
Anmerkung: Inzwischen (2006) gibt es zahlreiche Studien, die einen gedächtnisfördernden Effekt des Schlafes nachweisen!
Horne selbst favorisiert unter teleologischen Gesichtspunkten zudem eine Einteilung in dem von ihm so bezeichneten Kernschlaf ("core sleep") und Optionalen Schlaf (von Koella als obligater und fakultativer Schlaf bezeichnet).
- Der Kernschlaf erstreckt sich über die ersten drei Schlafzyklen und setzt sich entsprechend vorwiegend aus Tiefschlaf und etwa der Hälfte des REM-Schlafes einer typischen achtstündigen Schlafdauer zusammen. Dieser Kernschlaf erfüllt nach Horne die essentielle Funktion einer cerebralen Regeneration, die vor allem während des Tiefschlafes erfolge ( das Gehirn, so Horne, ist das einzige Organ, das auf Schlaf wirklich angewiesen ist, weil es selbst im Zustand des entspannten Wachseins eine nach wie vor hohe Aktivität aufweist. Nur "off-line" im Tiefschlaf könne es zu entsprechenden Erholungsprozessen kommen).
- Der Optionale Schlaf besteht entsprechend aus den letzten Schlafzyklen und beinhaltet neben den Leichtschlafstadien NREM-1/2 vor allem REM-Schlaf. Seine Funktion besteht bei Horne in Anlehnung an die Webbsche Adaptationsthese darin, die unproduktiven, "langweiligen" Stunden bis Sonnenaufgang zu füllen. Er kann nach Horne leicht verkürzt oder verlängert werden, ohne daß es zu Einbußen beliebiger Art kommt.
Diese Zweiteilung in einen restaurativen Kern- und adaptiven optionalen Schlaf sieht Horne vor allem durch Reboundeffekte nach Schlafdeprivation gestützt. Nach totalem Schlafentzug wird in den Erholungsnächten quantitativ gesehen nur rund ein Drittel der verlorenen Schlafdauer insgesamt wettgemacht, aber ca. 80% des verlorenen Stadiums NREM-4 und ca. die Hälfte des verlorenen REM-Schlafes. Für die größere Bedeutung des Tiefschlafes, wie Horne sie annimmt, würde zudem sprechen, daß der Tiefschlafrebound bereits in der ersten Erholungsnacht einsetzt, während es zu einem REM-Rebound erst in der zweiten Erholungsnacht kommt. Horne verweist außerdem auf die hohe Korrelation zwischen Wachdauer und Tiefschlafdauer, die auf ein entsprechendes kumulierendes Tiefschlafbedürfnis schließen läßt, während die REM-Schlaf-Dauer überwiegend circadianen Einflüssen unterliegt. Meßbare Auswirkungen einer Schlafrestriktion zeigen sich zudem erst bei einer Schlafdauer unter vier Stunden.